Vielfaltsbarometer 2025: Ein Land zwischen Brückenbau und Mauerdenken

Das Vielfaltsbarometer 2025 ¹, eine Studie vom Robert-Bosch-Institut, hält Deutschland den Spiegel vor – und das Bild ist bedrückend. In nur sechs Jahren ist die Akzeptanz gesellschaftlicher Vielfalt spürbar gesunken. Der Vielfaltsindex, der misst, wie offen Menschen gegenüber Alter, Behinderung, Geschlecht, sexueller Orientierung, sozialer Herkunft, ethnischer Herkunft und Religion eingestellt sind, fällt von 68 Punkten im Jahr 2019 auf nur noch 63 Punkte. Noch steht die Gesellschaft rechnerisch im positiven Bereich – doch die Richtung ist klar: Es geht abwärts. Und dieser Abstieg ist kein Randphänomen, sondern ein Alarmsignal.

Besonders dramatisch bricht die Zustimmung in den Dimensionen ethnische Herkunft, Religion und sexuelle Orientierung ein. Während Vielfalt im Bereich Behinderung (82 Punkte) und Geschlecht (74 Punkte) relativ breit akzeptiert bleibt, verlieren andere Felder massiv. Die Akzeptanz ethnischer Vielfalt stürzt von 73 auf 56 Punkte – ein Verlust von 17 Punkten. Religiöse Vielfalt fällt mit nur 34 Punkten sogar in den Bereich offener Ablehnung. Und auch die Haltung gegenüber unterschiedlichen sexuellen Orientierungen kippt: von 77 auf 69 Punkte. Diese Zahlen sind nicht abstrakt – sie erzählen von wachsender Kälte im Alltag, von Misstrauen, von Blicken, die verletzen, und von Worten, die ausgrenzen. Dahinter stehen nicht bloß Umfragewerte, sondern konkrete Lebenserfahrungen.

Die vergangenen Jahre haben die Menschen in Deutschland tief erschüttert. Pandemie, Krieg in Europa, Klimakrise, Inflation, Rezession – jede Krise für sich wäre schwer genug. Doch sie kamen gleichzeitig und haben ganze Lebensentwürfe ins Wanken gebracht. Viele fühlen sich überfordert, ohnmächtig, bedroht in dem, was sie sich aufgebaut haben. In dieser Unsicherheit schlägt der Schutzreflex ins Negative um: das Eigene wird verteidigt, indem man das Andere abwehrt. Besonders im Osten des Landes wirken zudem die Erfahrungen der Wende nach – eine Zeit von Verlust, Umbruch, Zerrissenheit. Diese kollektiven Narben sind bis heute spürbar und nähren Skepsis und Misstrauen.

Die Studie macht deutlich, wie sehr das Land auseinanderdriftet. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lässt sich als Kosmopolit:innen beschreiben: Sie akzeptieren Vielfalt, sind häufiger weiblich, leben überwiegend in Westdeutschland, haben eher linke Einstellungen, zeigen Empathie und Offenheit. Die andere Hälfte teilt sich in zwei Lager: Protektionist:innen, die ethnische, religiöse und soziale Vielfalt entschieden ablehnen, und Vielfaltsskeptiker:innen, die in allen Bereichen kritisch bis ablehnend eingestellt sind. Zwischen diesen Gruppen klaffen Gräben von bis zu 54 Punkten – Zahlen, die eine harte Wahrheit sichtbar machen: Deutschland ist tief gespalten.

Und die Spaltung wird durch Medien und Politik nicht gemildert, sondern oft verschärft. Rechtsextreme und rechtskonservative Stimmen erhalten unverhältnismäßig viel Raum. In Talkshows, Interviews, Online-Formaten dürfen sie ihre Parolen verbreiten – häufig ohne Widerspruch, ohne konsequentes Nachhaken, ohne sofortige Faktenchecks. So entsteht der fatale Eindruck, Hass und Hetze seien legitime Meinungen, gleichwertig mit demokratischen Grundwerten. Diese falsche Ausgewogenheit verharmlost Ausgrenzung und verschiebt die Grenzen des Sagbaren. Wer von „Remigration“ schwärmt, wer gegen queere Menschen hetzt oder religiöse Minderheiten diffamiert, darf unwidersprochen auftreten – und rückt damit demokratische Grundrechte in die Ecke bloßer Optionen.

Das ist brandgefährlich. Denn so wird die Normalität verschoben: weg von Offenheit, hin zur Akzeptanz von Abwehr und Feindbildern. Wer schweigt, wenn Vielfalt attackiert wird, macht sich mitschuldig daran, dass Zusammenhalt zerbricht.

Das Vielfaltsbarometer 2025 ist deshalb keine bloße Statistik. Es ist ein Fieberthermometer, das anzeigt, wie krank die gesellschaftliche Stimmung geworden ist. Vielfalt ist längst Realität – sie verschwindet nicht, egal ob man sie feiert oder fürchtet. Die Frage ist nicht, ob es sie gibt, sondern ob wir sie als Bereicherung begreifen oder als Bedrohung. Begegnung, Dialog, Bildung und Aufklärung könnten Brücken schlagen. Aber solange Hass unwidersprochen bleibt und Extremisten die Bühne bekommen, wächst die Gefahr, dass Ablehnung von Vielfalt zur gesellschaftlichen Routine wird.

Dass Vielfalt überlebenswichtig ist, zeigt ein Blick in die Natur. In Deutschland sind rund 71.500 Tier-, Pilz- und Pflanzenarten ² bekannt. Sie alle zusammen bilden das Fundament unseres Lebens: Sie bestäuben Pflanzen, reinigen Luft und Wasser, sichern Nahrung und Klima. Ohne sie gäbe es keine Wälder, die CO₂ binden. Keine Böden, die fruchtbar bleiben. Keine Insekten, die unsere Felder bestäuben. Was wären wir ohne diese Vielfalt? Jeder Verlust schwächt das Ganze – und macht uns verletzlicher. Genau so verhält es sich mit der gesellschaftlichen Vielfalt: Auch sie ist ein Netz, das uns trägt. Jede Perspektive, jede Herkunft, jede Stimme macht uns widerstandsfähiger. Wer sie schwächt, schneidet an den Wurzeln der Gesellschaft.

Vielfalt zeigt sich nicht nur in Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung – sie beginnt bereits bei der simplen Tatsache, dass Menschen nicht auf ihre Nationalität reduziert werden dürfen. Ob deutsch, syrisch, brasilianisch, italienisch oder türkisch: Es sind Menschen. Menschen mit Hautfarben, die unterschiedlich leuchten, mit Geschichten, die unterschiedlich klingen, mit Träumen, die unterschiedlich groß sind. Wer sie in Schubladen steckt, verfehlt das Wesentliche – und zerstört genau den Zusammenhalt, den wir gerade jetzt so dringend brauchen.

Deutschland steht an einem Scheideweg. Entweder wir begreifen Vielfalt als Stärke, als Schatz, als Schutzschild gegen Krisen – und handeln entschlossen gegen Spaltung. Oder wir lassen zu, dass Ablehnung und Angst sich ausbreiten, bis das Fundament unserer Demokratie langsam, aber sicher zerbricht. Das Vielfaltsbarometer sagt es klar: Die Zeit zum Gegensteuern ist nicht morgen. Sie ist jetzt.

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Quelle ¹: Robert-Bosch-Institut: Vielfaltsbarometer 2025

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