Das „Problem im Stadtbild“ – Wie Friedrich Merz den moralischen Kompass verliert

Es beginnt mit einem Satz. Kein Ausrutscher, keine unbedachte Wendung, sondern ein Satz, der mit Bedacht fällt – und der offenlegt, wie tief sich Verachtung inzwischen in die politische Sprache gefressen hat.

Friedrich Merz, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, steht in Potsdam vor Mikrofonen. Er spricht über Migration, Sicherheit, Rückführungen. Es ist einer dieser routinierten Termine, an denen Politiker Worte abspulen, die längst abgestanden klingen. Doch plötzlich sagt er:

„Wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“

Ein kurzer Moment der Stille, dann ziehen die Kameras weiter. Aber der Satz bleibt hängen. Er wird wiederholt, zitiert, seziert. Denn er enthält, verdichtet in wenigen Worten, eine gefährliche Idee: Dass Menschen, die sichtbar anders sind, ein Problem seien. Dass das, was man auf der Straße sieht – Hautfarbe, Kleidung, Sprache – korrigiert werden müsse. Nicht durch Integration, Bildung oder Dialog, sondern durch Abschiebung.

„Das Stadtbild“, dieses vermeintlich harmlose Wort, wird in Merz’ Mund zu einem Code. Es steht nicht für Architektur oder Ordnung, sondern für Identität, für das visuelle Selbstbild eines Landes, das sich seiner Vielfalt nie sicher war. Merz sagt nicht, wer gemeint ist, aber jeder versteht es. Die Andeutung ist präzise genug, um rassistische Deutungen zu ermöglichen, und vage genug, um sie abstreiten zu können. Genau darin liegt die Raffinesse – und die Gefährlichkeit.

Denn Sprache schafft Realität. Und wer Menschen in einem Atemzug mit „Rückführungen“ nennt, reduziert sie auf Störung, auf Makel, auf etwas, das aus dem Blickfeld verschwinden soll.

Merz hätte die Chance gehabt, das zu korrigieren.
Er hätte erklären können, dass er soziale Brennpunkte meint, dass es um Sicherheit geht, nicht um Herkunft. Aber er tat das Gegenteil. Als Journalisten nachhakten, antwortete er:
„Ich habe gar nichts zurückzunehmen. Fragen Sie Ihre Kinder, fragen Sie Ihre Töchter.“

Dieser Satz war noch entlarvender als der erste. Er sagt: Ich habe recht, und wer widerspricht, versteht die Wirklichkeit nicht. Er benutzt Angst – insbesondere weibliche Angst – als Waffe. Er impliziert, dass Frauen sich in deutschen Städten nicht mehr sicher fühlen, und dass das „Stadtbild“ daran schuld sei. Damit wird Angst politisch instrumentalisiert. Sie wird nicht ernst genommen, sondern genutzt, um ein Feindbild zu verfestigen.

Es ist die klassische Rhetorik der Spaltung: Man behauptet, Realist zu sein, während man längst die Grenze zum Zynismus überschritten hat. Man nennt es „ehrlich“, weil es hart klingt, und verwechselt Rücksichtslosigkeit mit Mut.

Diese Worte wären in jeder Demokratie ein Skandal. In Deutschland, einem Land, das gelernt haben sollte, welche Macht Worte haben, sind sie ein Menetekel.

Doch anstatt zu reflektieren, zieht Merz sich in die Pose des Unverstandenen zurück. „Ich spreche nur aus, was viele denken“, sagt er. Jens Spahn springt ihm bei. Es ist die vertraute Schutzbehauptung der Populisten: Der Politiker als Märtyrer der angeblichen Meinungsfreiheit. Doch wer so redet, hat nicht Mut, sondern Angst – Angst, zu verlieren, wenn er sich menschlich zeigt.

In Wahrheit ist das kein Ausdruck von Stärke, sondern von Schwäche. Wer ein Land führen will, muss verbinden, nicht verachten.

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Politikerinnen der Grünen, der SPD und der Linken sprachen von einer „menschlichen Bankrotterklärung“. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Natalie Pawlik, nannte die Aussage „verheerend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Und auf den Straßen begannen die Menschen zu antworten – nicht mit Empörung, sondern mit Haltung.

In Berlin, Köln, Hamburg, Leipzig und Frankfurt formierten sich Demonstrationen unter dem Motto „Wir sind das Stadtbild“. Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, mit und ohne Migrationshintergrund, trugen Schilder: „Wir sind kein Problem – wir sind Deutschland.“ Diese Proteste waren friedlich, aber klar. Sie machten sichtbar, dass das wahre Stadtbild dieses Landes längst vielfältig ist – und dass es sich nicht zurückdrängen lässt, egal wie laut ein Kanzler redet.

Während draußen Tausende demonstrierten, herrschte drinnen Schweigen. Die CDU reagierte mit betretenem Schweigen und innerer Schockstarre. Nur vereinzelt wagten Abgeordnete leise Kritik, meist hinter vorgehaltener Hand. Kein Parteivorstand, keine Generalsekretärin, kein Landeschef wagte offene Distanz. Der Reflex des Machterhalts siegte über jedes moralische Empfinden.

So aber entsteht Mitverantwortung.
Denn Schweigen ist Zustimmung, auch in der Politik. Wer sich nicht abgrenzt, stimmt zu. Und wer weiter klatscht, während Menschen zu Problemen erklärt werden, macht sich mitschuldig.

Die CDU, einst die Partei der Mäßigung und der Vernunft, steht an einem Scheideweg. Das „C“ und das „D“ in ihrem Namen – christlich, demokratisch – sind zu Hüllen geworden. Christlich ist an dieser Politik nichts, demokratisch noch weniger. Es ist die Sprache der Ausgrenzung, getarnt als Realitätssinn.

Es wäre leicht, diese Episode als verbale Entgleisung abzutun. Doch sie steht für etwas Tieferes: für eine politische Haltung, die sich längst nach rechts verschoben hat, weil sie glaubt, dort Stimmen zu gewinnen. Merz redet nicht, um zu erklären, sondern um sich abzugrenzen. Er will nicht überzeugen, sondern aufwühlen.

Aber in diesem Versuch, Stärke zu zeigen, verrät er etwas Grundlegendes: Er glaubt, Menschenwürde sei verhandelbar.

Das ist der Punkt, an dem Politik aufhört, Haltung zu sein, und zum Machtspiel wird.

Und so ist Friedrich Merz längst mehr als ein Kanzler, der provoziert. Er ist ein Symptom für eine politische Kultur, die Kälte mit Klarheit verwechselt. Eine Kultur, in der das Bedürfnis nach Komplexität der Sehnsucht nach einfachen Feindbildern weicht.

Die Gesellschaft aber hat reagiert. Sie hat ihm gezeigt, dass sie sich nicht aufspalten lässt. Dass das wahre Stadtbild aus Gesichtern besteht, die man nicht „rückführen“ kann, weil sie längst dazugehören.

Was bleibt, ist ein Kanzler, der sich unbelehrbar zeigt – und eine Partei, die schweigt, obwohl sie wissen müsste, was ihr Schweigen anrichtet.

Ein Land, das Vielfalt als Last empfindet, verliert sein Herz.
Ein Kanzler, der Menschen zum Problem erklärt, verliert seine Würde.
Und eine Partei, die beides hinnimmt, verliert ihre Seele.

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