Die Baseballschlägerjahre – Deutschlands blinde Jahre nach der Wende



Die frühen neunziger Jahre waren für Deutschland kein Aufbruch in eine neue Freiheit, sondern für viele ein Sturz in die Leere. Die Mauer war gefallen, die Euphorie verrauschte, und zurück blieb ein Land, das sich suchte – und sich in Teilen verlor. Besonders im Osten, wo alles Vertraute über Nacht entwertet war, breitete sich eine bleierne Orientierungslosigkeit aus. Arbeitsplätze verschwanden, Lebensläufe zerbröselten, Sicherheiten verdampften. Und in diesem Vakuum wuchsen neue Zugehörigkeiten – brutal, laut, hasserfüllt. Junge Männer, berauscht von Alkohol und Parolen, suchten Halt und fanden ihn im Hass.

Baseballschlägerjahre“ – ein Wort, das klingt wie Sportartikel, in Wahrheit aber eine Chiffre für Angst, Gewalt und Demütigung ist. Es steht für eine Zeit, in der Neonazis vielerorts den öffentlichen Raum beherrschten, als wäre der Staat abgetreten. Für das Knirschen von Springerstiefeln auf Pflaster, für geborstene Scheiben, für Schreie in der Nacht. Für das Gefühl, dass Demokratie plötzlich eine Option war, kein Versprechen.

Der Begriff selbst kam erst spät. Im Herbst 2019 schrieb der Journalist Christian Bangel auf Twitter: 

„Ihr Zeugen der Baseballschlägerjahre. Redet und schreibt von den Neunzigern und Nullern. It’s about time.“ 

Ein Satz, eine Aufforderung, ein Riss durch die Selbstzufriedenheit der Gegenwart. Innerhalb von zehn Tagen antworteten rund 2.700 Menschen. Über 400 von ihnen berichteten konkret, persönlich, unverstellt. Von Schlägen, von Drohungen, von der Angst, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Aus dem Hashtag wurde binnen Stunden ein kollektives Gedächtnis – eine digitale Kiste voller grauenvoller, schwarzer Erinnerungen, die sich nicht mehr schließen ließ.

Wer die Menschen sind, die dort schrieben, wissen wir nur ungefähr. Twitter erlaubt Anonymität; keine Profile, keine Statistiken, keine Soziogramme. Doch ihre Stimmen verraten genug. Sie stammen meist aus dem Osten, aus der sogenannten Dritten Generation Ostdeutschland, den zwischen 1975 und 1985 Geborenen, die ihre Jugend in den neunziger Jahren verbrachten. Viele von ihnen gehörten zu jenen Subkulturen, die in dieser Zeit im Osten nicht Mode, sondern Mut bedeuteten – Punks, Gothics, Metaller, Skater, HipHopper. Junge Leute, die Individualität wagten und dafür Prügel kassierten. Sie erzählten, was sie jahrzehntelang verschwiegen hatten: von Furcht, Demütigung, Scham. Von Schulwegen, die zu Spießrouten wurden. Von Dorfplätzen, die nur mit gesenktem Blick zu durchqueren waren. Von Nächten, in denen man den Atem anhielt, wenn draußen Stiefel klackten. Diese Erzählungen sind keine sentimentalen Rückblicke, sie sind Beweise – ein digitales Archiv der Unterdrückten, eine späte Rückkehr des Verschwiegenen.

Denn die Baseballschlägerjahre begannen nicht mit einem Tweet, sondern mit dem Zusammenbruch eines Landes. Nach der Wiedervereinigung lag Ostdeutschland in Trümmern. Fabriken schlossen, Lebensentwürfe implodierten, Identitäten lösten sich auf. Wer gestern noch gebraucht wurde, galt plötzlich als überflüssig. Die DDR hatte sich selbst als antifaschistischen Staat inszeniert, als immun gegen rechte Ideologie. Das war eine Lüge, und nach 1990 fiel sie krachend in sich zusammen. Unter dem Asphalt des sozialistischen Alltags kam hervor, was dort jahrzehntelang gärte: Rassismus, autoritäres Denken, Nationalismus. Westdeutsche Neonazis nutzten die Orientierungslosigkeit, um Strukturen zu schaffen – Kameradschaften, Skinhead-Cliquen, Wehrsportgruppen. Die Polizei im Osten war überfordert, die Justiz schwach, die Politik unsicher. Das Ergebnis war eine Machtverschiebung auf der Straße: Neonazis beanspruchten Territorien, und sie bekamen sie.

In unzähligen Städten übernahmen Rechte die Jugendclubs, die Diskotheken, die Plätze. Wer nicht ins Schema passte, wurde verfolgt, erniedrigt, zusammengeschlagen. Dunkelhäutige, Migranten, Linke, Schwule, Andersdenkende – sie alle mussten lernen, unsichtbar zu werden. In diesen Jahren wurde der Baseballschläger zur Alltagswaffe, das Hakenkreuz zum Revierzeichen. Ganze Stadtviertel galten als No-go-Areas. In Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg, Thüringen: dieselben Szenen, dieselbe Feigheit.

Hoyerswerda war der Auftakt. Im September 1991 belagerten rechte Horden ein Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter und später eine Asylunterkunft. Sechs Nächte lang flogen Steine und Brandsätze, die Polizei stand daneben, die Menge applaudierte. Am Ende wurden nicht die Täter, sondern die Opfer abtransportiert. Hoyerswerda war danach „ausländerfrei“. Ein Begriff, den Neonazis als Sieg feierten – und den die Republik allzu schnell verdrängte.

Ein Jahr später Rostock-Lichtenhagen. Fünf Tage lang brannte das Land. Tausende Menschen jubelten, als Neonazis das Sonnenblumenhaus attackierten, in dem Asylsuchende und vietnamesische Vertragsarbeiter lebten. Die Polizei zog sich zurück, der Staat kapitulierte. Nur durch Zufall starb niemand. Aber das Signal war eindeutig: In Deutschland konnte man 1992 ein Flüchtlingsheim anzünden und wurde dafür bejubelt. Die Täter bekamen Bewährung, die Opfer wurden vergessen.

Dann kamen Mölln und Solingen. Brandanschläge auf türkische Familien, Kinder verbrannten in ihren Betten. Die Republik war erschüttert – und duckte sich dennoch weg. Statt den Tätern den Krieg zu erklären, reagierte die Politik mit Beschwichtigung. Der sogenannte Asylkompromiss von 1993 war nichts anderes als ein Kniefall. Unter dem Druck rechter Gewalt wurde das Grundrecht auf Asyl beschnitten. Eine Demokratie, die sich vor Pogromstimmung beugt, verrät sich selbst. Und Deutschland tat es – wissentlich.

Das Klima jener Jahre war ein einziger wütender Chor: „Ausländer raus“, „Deutschland den Deutschen“. Medien befeuerten es mit Schlagzeilen über „Asylantenfluten“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“. Politiker erklärten, man müsse die Sorgen der Bürger ernst nehmen, und gaben damit den Rassisten moralische Deckung. Der Westen sah zu, selbstgerecht und bequem, als sei der Hass eine Randerscheinung des Ostens. Doch Mölln und Solingen bewiesen: Er war überall. Er war deutsch. Er war tief.

Zahlen erzählen die Dimension: 1991 registrierte das Bundeskriminalamt 1.483 rechtsextreme Gewalttaten. Ein Jahr später mehr als 2.500. Die Dunkelziffer? Niemand weiß sie. Viele Opfer zeigten ihre Peiniger nicht an – aus Angst oder aus dem Wissen, dass es ohnehin nichts nützte. Rund 150 Tote anerkannte der Staat als Opfer rechter Gewalt. Initiativen zählen doppelt so viele. Hinter jeder Zahl ein Mensch, hinter jedem Menschen ein Schweigen.

Die Täter waren keine bloß betrunkenen Jugendlichen. Sie waren überzeugt, politisch, organisiert. Sie trugen Symbole, sie kannten ihre Feinde, sie wollten Macht. Sie verstanden sich als Vollstrecker eines neuen Deutschlands, „rein“ und „stark“. Und sie lernten: Der Staat schaut weg. Richter sprachen von Gruppendynamik, von „dummen Jungenstreichen“. Polizeiakten verschwanden, Ermittlungen verliefen im Sande. So wurde Straflosigkeit zur Routine, und aus Routine wurde Struktur. Das war die eigentliche Katastrophe: Nicht die Gewalt allein, sondern das Wegsehen.

Doch das größere Versagen lag tiefer. Es lag in der Gesellschaft selbst. In der Nachbarschaft, die applaudierte. In der Schule, die schwieg. Im Bürgermeister, der sagte: „Wir wollen keinen Ärger.“ In Eltern, die ihren Kindern rieten, den Mund zu halten. Eine ganze Generation lernte, dass Mut gefährlich und Schweigen sicher war. Der öffentliche Raum gehörte den Schlägern, weil die Mehrheit ihn aufgab.

Die Baseballschlägerjahre waren auch ein Sprachversagen. Eine Zeit, in der Wörter zu Waffen wurden. Presse und Politik redeten von „Überfremdung“ und „Asylantenfluten“, als ginge es um Naturkatastrophen. Diese Sprache war das Gift, das die Gewalt nährte. Als in Rostock das Haus brannte, sprach der Innenminister nicht von Tätern, sondern vom „Missbrauch des Asylrechts“. Kanzler Kohl blieb den Trauerfeiern fern. Diese Symbolik des Zögerns war Verrat – kalt, kalkuliert, tödlich.

Und doch, mitten in all dem, begann Gegenwehr. Zart, aber entschlossen. In Westdeutschland bildeten sich Lichterketten, Hunderttausende gingen auf die Straße. In Ostdeutschland gründeten sich erste Initiativen, Opferberatungen, Netzwerke gegen rechts. Namen wie „Opferperspektive“, „Mobile Beratungsteams“ oder „Amadeu Antonio Stiftung“ standen für das, was der Staat nicht schaffte: Haltung. Aber der Kampf war mühsam, der Rückhalt dünn, die Gefahr real.

Erst Jahrzehnte später begann das Land, sich seiner Schande zu stellen. Zu lange hatte man über diese Zeit geschwiegen, weil sie nicht in die Erfolgsgeschichte der Einheit passte. Erst die Kinder jener Generation – die Dritte Generation Ost – brachen das Schweigen. Mit #Baseballschlägerjahre holten sie das Verdrängte ins Licht. Sie erzählten die Geschichten, die nie in Geschichtsbüchern standen: von Angst, Demütigung, Ohnmacht, aber auch von Trotz, von Überleben, von Würde. Es war kein sentimentaler Rückblick, sondern eine Beweisaufnahme.

Heute wissen wir: Die Baseballschlägerjahre waren kein Randphänomen, kein Betriebsunfall der Geschichte. Sie waren eine Warnung. Eine Lektion darüber, wie schnell Zivilisation zerbröckelt, wenn der Staat wankt, die Sprache kippt und die Mehrheit schweigt. Sie zeigen, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, sondern ein täglicher Kampf. Und sie zeigen, dass rechtsextreme Gewalt nie aus dem Nichts kommt – sie wächst in den Zwischenräumen der Gleichgültigkeit.

Die Verantwortung, daraus zu lernen, ist nicht verjährt. Wer heute über „damals“ spricht, muss wissen: Damals ist nicht vorbei. Der Hass hat neue Gesichter, aber dieselbe Fratze. Die Parolen sind digital, die Netzwerke global, doch das Prinzip bleibt gleich – Menschen entmenschlichen, Angst schüren, Stärke inszenieren. Wer das verharmlost, wer von „Einzelfällen“ spricht, hat nichts verstanden.

Die Lehre ist brutal, aber klar: Rechtsextremismus duldet man nicht, man bekämpft ihn. Immer. Überall. Ohne Ausnahme. Nicht erst, wenn Häuser brennen, sondern wenn Worte vergiften. Nicht erst, wenn der Mob marschiert, sondern wenn die ersten Lacher fallen. Der Staat muss handeln – entschlossen, gerecht, hart. Die Zivilgesellschaft muss laut bleiben. Medien müssen Verantwortung tragen. Schulen müssen lehren, was passiert, wenn man Geschichte verdrängt.

Die Baseballschlägerjahre waren die Probe, die Deutschland beinahe nicht bestanden hätte – ein Stresstest für Demokratie, Zivilcourage und das staatliche Gewaltmonopol. Sie zeigten, wie dünn die Schicht der Zivilisation ist, wenn Angst, Opportunismus und Wegsehen zusammenkommen. Es war eine Zeit, in der Mut die Ausnahme war und Feigheit die Regel, in der das öffentliche Schweigen lauter hallte als jeder Schrei der Opfer. Und sie war eine Warnung, die uns bis heute begleitet – eine Mahnung, die wir erneut überhören könnten.

Denn die Geschichte wiederholt sich nicht mechanisch, aber sie reimt sich, und ihre Reime klingen heute unüberhörbar. Wieder verroht die Sprache. Wieder wird Hass als Meinung getarnt, Hetze als Freiheit verkauft, und das Gift tropft zunächst langsam, dann stetig. Wieder gibt es Politiker, die lieber Stimmungen bedienen, als Haltung zu zeigen. Wieder wird von „Überlastung“ geredet, von „Kontrollverlust“ und „Grenzen der Belastbarkeit“. Wieder wird Angst instrumentalisiert, um Macht zu sichern. Das Vokabular hat sich geändert, der Mechanismus ist derselbe.

Wir laufen in akuter Gefahr, die Fehler der Baseballschlägerjahre zu wiederholen – diesmal nicht aus Schock, sondern aus politischer Berechnung. Damals versagte der Staat, weil er überfordert war. Heute droht er zu versagen, weil er es besser weiß – und trotzdem taktiert. Weil er dem Populismus Raum gibt, anstatt ihn zu entlarven. Weil er sich in Umfragen verliert, statt Prinzipien zu verteidigen. Weil er Debatten führt, als ginge es um Meinungsfarben, nicht um Menschenwürde.

Schon einmal hat eine Republik geglaubt, sie könne mit denen reden, die das System verachten. Schon einmal meinte man, man müsse „die Sorgen der Leute ernst nehmen“, wenn diese Sorgen in Hass verpackt waren. Schon einmal glaubte man, ein paar Konzessionen an den rechten Rand würden ihn zähmen – und lernte zu spät, dass sie ihn füttern. Wer jetzt glaubt, man könne Demokratie retten, indem man ihre Gegner integriert, versteht nicht, dass sie nicht dazugehören wollen. Sie wollen zerstören, nicht gestalten. Und jeder Zentimeter, den man ihnen gibt, ist einer, den man den Opfern nimmt.

Darum darf die Lehre aus den Baseballschlägerjahren nicht bloß Erinnerung sein, sondern Handlungsanweisung. Sie lautet: Wehret den Anfängen – und zwar früh, entschlossen, ohne falsche Symmetrie. Demokratie ist kein Zustand, sie ist ein Prozess – sie lebt vom Widerspruch, aber sie stirbt am Relativismus. Wer Gewalt verharmlost, wer auf Hass schielt, um Stimmen zu gewinnen, spielt mit derselben Dynamik, die damals Pogrome möglich machte.

Wir müssen begreifen, dass die Grenzen nicht zwischen Ost und West verlaufen, sondern zwischen Haltung und Feigheit, zwischen Verantwortung und Zynismus. Es gibt keine Neutralität zwischen Menschenwürde und Menschenhass. Jede Regierung, jede Partei, jede Redaktion, jede Schule, jede Nachbarschaft steht in dieser Verantwortung. Schweigen ist kein Schutz. Wegsehen ist Mittäterschaft.

Wenn der Hass wieder an die Tür klopft – und er tut es längst –, dürfen wir nicht zögern. Wir öffnen sie nicht. Wir stellen uns davor. Wir halten stand. Mit klarer Sprache, mit Gesetz, mit Mut, mit Empathie. Wer Demokratie liebt, muss sie laut verteidigen – auch gegen die Bequemlichkeit, auch gegen die eigene Müdigkeit.

„Nie wieder“ ist kein Zitat aus Geschichtsbüchern, kein moralischer Schmuck für Sonntagsreden. Es ist ein täglicher Auftrag – unbequem, anstrengend, unerlässlich. Es bedeutet, früh zu widersprechen, wo andere abwinken. Es bedeutet, zu handeln, bevor die Brandbeschleuniger wieder ihre Fackeln anzünden. Es bedeutet, politische Verantwortung nicht nach Umfragen, sondern nach Prinzipien zu gestalten.

Und wer diesen Auftrag vergisst, der macht sich nicht nur schuldig – er bereitet den Boden für das nächste Scheitern. Die Baseballschlägerjahre mahnen uns, dass der Niedergang der Demokratie nie mit einem Putsch beginnt, sondern mit einem Achselzucken. Mit der Gewöhnung an das Undenkbare. Mit dem Satz: „So schlimm wird’s schon nicht werden.“

Doch genau so wird es schlimm. Immer.
Darum: Kein Zögern mehr. Kein falsches Verständnis. Kein Nachgeben.
Nie wieder – das ist kein Versprechen. Es ist eine Verpflichtung.
Und diesmal müssen wir sie halten.

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