Zwischen gepflegten Ehrenmalen und stillen Fluren: Wie Neuenkirchen seine Opfer des NS-Regimes fast vergessen hat

Ich möchte mich in meinem Blog heute einem Thema widmen, das mir persönlich sehr am Herzen liegt: Der Sichtbarkeit von Neuenkirchens Opfern des Zweiten Weltkrieges. 

Jenen Menschen, die unter dem NS-Regime schwer gelitten haben. Menschen, die verfolgt, deportiert und getötet wurden - nur weil sie jüdisch oder krank waren. Menschen, die die volle Grausamkeit der Nazis zu spüren bekommen haben und die im Gedenken unserer Gemeinde in Neuenkirchen bisher nahezu unsichtbar geblieben sind.

Ich lebe erst seit 2022 in Neuenkirchen, aber im Laufe der letzten Jahre habe ich begonnen, mich für seine Menschen und ihre Geschichte zu interessieren. Bei Fahrten und Spaziergängen durch den Ort fielen mir immer wieder das Ehrenmal für die Gefallenen beider Weltkriege, das Kriegerehrenmal Sutrum-Harum, der Soldatenfriedhof und das Ehrenmal St. Arnold, die Kriegsgedächtniskapelle Offlum sowie das Kriegerehrenmal Landersum auf und auch in meiner Straße, nur wenige Meter von der Haustür entfernt steht ein Denkmal, welches die gefallenen Soldaten der ersten beiden Weltkriege ehrt. Ich begann mich daher irgendwann zu fragen, ob und wo den Verfolgten und Ermordeten des NS-Regimes gedacht wird. Gab es überhaupt Jüdinnen und Juden in Neuenkirchen und falls ja, wer waren sie und was ist ihnen widerfahren?

Meine Suche führte mich zuerst zur Online-Datenbank von Yad Vashem, der Internationalen Holocaust Gedenkstätte, später zur Internetseite von Stolpersteine Steinfurt sowie zu einem älteren Artikel in der Münsterländischen Volkszeitung (MV) aus dem Jahr 2015, in dem stand, dass im selben Jahr eine steinerne Gedenktafel mit den Namen von sieben Jüdinnen und Juden im Rathausfoyer von Neuenkirchen angebracht wurde. Ihre Namen lauteten wie folgt:


Adele Neukircher, geb. Hoffmann
Dr. Emil Hoffmann
Adolf Hoffmann
Hermann Hoffmann
Bernhard Hoffmann
Johanna Meijer, geb. Rosenberg
Rieka de Vries, geb. Rosenberg



Während an mehreren Stellen im Ort Ehrenmäler errichtet wurden, wird den Opfern des NS-Regimes zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das finde ich sehr bedauerlich. 

Versteht mich bitte nicht falsch: Es ist sehr löblich, dass es diese Gedenktafel gibt und man den sieben Jüdinnen und Juden 70 Jahre nach Kriegsende endlich Aufmerksamkeit geschenkt hat. Und doch bleibt eine Frage: Warum erst so spät? Siebzig Jahre, in denen das Schweigen lauter war als jedes Gedenken. Umso schmerzlicher, dass der Platz, den man ihnen schließlich gab, nicht der richtige ist. 

Ein stiller Stein, versteckt zwischen Akten und Amtsfluren. Keine Erklärung, kein Hinweis führt dorthin. Man muss sie kennen, um sie zu finden.

Draußen erheben sich gepflegte Denkmäler für die „Gefallenen“ der Weltkriege. Sie sind Teil des Ortsbilds, selbstverständlich, sichtbar. Den Opfern der Verfolgung aber, den Entrechteten und Ermordeten, wurde ein Platz zugewiesen, an dem kaum jemand innehält. Als gehörte ihr Tod nicht zur Geschichte des Ortes, als dürfe das Unrecht nur im Stillen und zu den Öffnungszeiten des Rathauses bedacht werden.

Geschichte muss sichtbar sein, nicht nur umgeben von Mauern.


Dr. Emil Hoffmann (08.01.1879, Neuenkirchen – 14.04.1942, Ghetto Łódź/Litzmannstadt)

Emil Hoffmann, Sohn von Max und Clara Hoffmann, geb. Sabelson, stammte aus Neuenkirchen und wurde Arzt. Nach Ausbildung und Praxisjahren ließ er sich in Köln nieder, wo er als angesehener Mediziner wirkte. Die nationalsozialistische Verfolgung entzog ihm Beruf, Heimat und schließlich das Leben. Am 30. Oktober 1941 wurde er aus Köln in das Ghetto Łódź (Litzmannstadt) deportiert – eine Stadt des Zwangs und des Elends. Dort starb oder wurde er am 14. April 1942 ermordet. Das Bundesarchiv-Gedenkbuch bestätigt Datum und Ort.


Johanna Meijer (Meijer-Rozenberg), geb. Rosenberg (11.08.1864, Neuenkirchen – 29.10.1942, Auschwitz)

Johanna Rosenberg, geboren in Neuenkirchen, lebte später in den Niederlanden. Unter der deutschen Besatzung wurde sie registriert, entrechtet, deportiert – zunächst ins Lager Westerbork, dann nach Auschwitz. Dort wurde sie am 29. Oktober 1942 ermordet. Ihr Lebensweg verbindet Neuenkirchen mit dem niederländischen Teil der Schoah, in der unzählige einstige Nachbarn verschwanden.

Adele Neukircher, geb. Hoffmann (21.07.1877, Neuenkirchen – ermordet, Treblinka)

Adele Hoffmann war mit Paul Julius (Julius Paul) Neukircher verheiratet; beide lebten zuletzt in Oestinghausen. Im Sommer 1942 wurden sie über Dortmund nach Theresienstadt deportiert. Am 23. September 1942 fuhr der Transport „Bq“ in das Vernichtungslager Treblinka – ein Ort, der nur ein Ziel kannte. Adele und Paul standen auf der Liste. Sie wurden dort ermordet. Ältere Quellen nannten irrtümlich Minsk; die Transportdokumente belegen Treblinka.




Adolf Hoffmann (19.03.1882, Neuenkirchen – ermordet, Ghetto Warschau/Treblinka)

Adolf Hoffmann machte Karriere als Bankprokurist bei der Deutschen Bank/Disconto-Gesellschaft in Magdeburg. Am 10. November 1938, nach den Novemberpogromen, wurde er verhaftet und im KZ Buchenwald interniert – ein erster Schritt in die völlige Entrechtung. Am 14. April 1942 deportierten die Behörden ihn und seine Frau Hermine (geb. Stern, verw. Gutmann) in das Ghetto Warschau. Von dort fuhren ab dem 21. Juli 1942 die Transporte nach Treblinka. Seither fehlt von beiden jede Spur – ihre Namen stehen für die ungezählten, die spurlos ausgelöscht wurden.

Bernhard Hoffmann (06.08.1892, Neuenkirchen – 28.09.1944, Auschwitz-Birkenau)

Bernhard Hoffmann lebte zuletzt in Köln. Von dort wurde er am 27. Juli 1942 mit Transport III/2 nach Theresienstadt verschleppt. Das Ghetto war für viele deutsche Jüdinnen und Juden Zwischenstation auf dem Weg in den Tod. Am 28. September 1944 deportierten ihn die Nationalsozialisten nach Auschwitz-Birkenau, wo er am selben Tag ermordet wurde. Seine Spur ist aktenkundig – sein Schicksal steht für die zermürbende Präzision des Mordapparats.



Rika (Richa/Recha/Ricka) Elfriede de Vries, geb. Rosenberg (07.06.1868, Neuenkirchen – 04.03.1943, Theresienstadt)

Rika Elfriede Rosenberg wurde in Neuenkirchen geboren und lebte später in Hamburg. Am 15. Juli 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Dort starb sie am 4. März 1943 – wie so viele ältere Menschen, die den Hunger, die Kälte und die Willkür nicht überlebten. Ihre Biografie ist in den Hamburger Stolperstein-Unterlagen festgehalten.


Hermann Hoffmann (09.01.1887, Neuenkirchen – 11.09.1942, Theresienstadt)

Hermann Hoffmann lebte zuletzt in Oestinghausen (heute Lippetal). 1938 kam er in sogenannte „Schutzhaft“ und wurde im KZ Sachsenhausen festgehalten. Am 30. Juli 1942 folgte die Deportation nach Theresienstadt, Transport X/1, Listen-Nr. 498, mit Abgangsbahnhof Dortmund. Dort starb er am 11. September 1942 – erschöpft, verhungert oder ermordet. Die überlieferten Akten nennen nüchtern, was geschehen ist.


Sie alle wurden in Neuenkirchen geboren – hier begann ihr Leben, ihre Geschichte. Manche blieben, andere zog es in andere Städte, nach Köln, Hamburg, Magdeburg oder in die Niederlande. Doch ihre Wurzeln lagen hier, in diesem Ort. Sie waren Töchter und Söhne Neuenkirchens, Menschen mit Gesichtern, Stimmen, Hoffnungen. Und auch wenn sie später woanders lebten, gehörten sie zu dieser Gemeinde – bis man sie zu Fremden erklärte und aus der Gemeinschaft auslöschte, die einst die ihre war.


Vergessene Opfer der „Euthanasie“-Morde

Die Jüdinnen und Juden waren jedoch nicht die einzigen, die den brutalen, grausamen und perfiden Machenschaften der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Neben den bereits bekannten Opfern gab es in Neuenkirchen noch fünf weitere Menschen, an denen sogenannte „Krankenmorde“ verübt wurden – Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Politik, die Menschen mit psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen systematisch entrechtete, deportierte und ermordete.

Ihnen wird bis heute nicht gedacht. Keine Gedenktafel nennt ihre Namen, kein Ort des Schweigens erinnert an ihr Leid. Ihre Spuren wurden ausgelöscht, ihre Geschichten verdrängt. Doch sie waren Teil dieser Gemeinde – Nachbarn, Mitmenschen, die hier lebten, bevor man ihnen das Leben und die Würde nahm.

Es ist an der Zeit, auch ihre Schicksale sichtbar zu machen. Damit Neuenkirchen nicht nur der gefallenen Soldaten und Opfer des Krieges gedenkt, sondern auch jener, die durch die mörderische Ideologie des eigenen Staates ausgelöscht wurden.


Berta Hönig, geb. Lenz
Theresia Hüwe
Wilhelmine Pupcke
Johanna Elisabeth Temmen
Hendrina Maria Salzmann


Ihre Spuren führen in verschiedene Heil- und Pflegeanstalten des Reiches, doch ihr Schicksal ist ein gemeinsames: Sie wurden aus der Gesellschaft entfernt, entrechtet, und schließlich ausgelöscht – meist ohne Grab, ohne Nachricht, ohne Spur.

Hier ist ein vertiefter, umfassenderer Versuch, den Lebensverläufen und Schicksalen der fünf Frauen Raum zu geben — soweit es die Quellenlage erlaubt. Leider sind die Informationen in vielen Fällen fragmentarisch, die Opferakten vielfach lückenhaft oder zerstört. 


Berta Hönig (geb. Lenz) wurde am 1. November 1898 geboren. Über ihre Herkunft – Wohnort, familiäre Bindungen, Beruf oder Gesundheitsgeschichte vor der Einweisung – habe ich in den öffentlich zugänglichen Quellen leider keine Hinweise gefunden.

Was ich jedoch herausgefunden habe: Am 23. September 1940 wurde sie aus ihrer ursprünglichen Anstalt (nicht exakt bekannt) in die Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen deportiert. Diese Einrichtung war zu dieser Zeit Teil des zentral gesteuerten NS-„Euthanasie“-Programms (Aktion T4). In Emmendingen wurden psychisch kranke oder behinderte Menschen systematisch getötet — meist durch Vergasung, bevor die Tötung im Spätsommer 1941 offiziell eingestellt wurde. In dieser Anstalt gilt Berta Hönig als eines der Opfer, denn in ihren Patientenunterlagen fehlt jeder Hinweis auf eine Entlassung oder einen Sterbetag; sie verschwindet aus den Kartei-Einträgen, wie es für zahlreiche Opfer typisch ist.

Die Gemeinde Steinfurt führt sie in ihrer Online-Datenbank über „Krankenmorde“ auf mit Angabe: Abtransport 23.09.1940 Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen (Signatur Bundesarchiv R 179/7881). Diese Spur verweist auf eine Einbindung in die zentralen Tötungsmechanismen, doch ein individuell fassbares Schicksal lässt sich nicht rekonstruieren.

Berta Hönig steht exemplarisch für die Vielen, deren Namen heute nur noch in wenigen Spuren existieren, deren individuelles Leben verloren ging im bürokratischen Massenmord.


Theresia Hüwe wurde am 11. November 1904 geboren. Auch bei ihr fehlen Angaben zu früheren Lebensumständen: Wohnort, Familie, Hospitalgeschichte vor der Einlieferung oder Diagnose sind nicht belegt.

Aus den Quellen geht hervor: Bis zum 1. Juli 1941 war sie Patientin in der Provinzial-Heilanstalt Lengerich. Von dort wurde sie am 11. August 1941 nach Eichberg (Rheingau) verlegt. Die Signatur in den Akten des Bundesarchivs ist R 179/719588 laut der Steinfurt-Datenbank. (Steinfurt führt sie ebenfalls unter „Krankenmorde“ mit den entsprechenden Angaben).

Eichberg diente in der Kriegszeit als Anstalt, in die Menschen aus anderen Einrichtungen verlegt wurden, oft mit der Absicht, sie zu töten oder ihrem langsamen Versterben zu überlassen. In Eichberg fanden – parallel zur dezentralen Phase der „Euthanasie“ – zahlreiche Tötungen durch Unterversorgung, Medikamentenüberdosierung oder Vernachlässigung statt.

Kurz nach ihrer Verlegung kehrte Theresia Hüwe nicht in die Lengericher Einrichtung zurück; sie ist nirgends sonst dokumentiert. Es existiert kein Sterbedatum oder sonstige Hinweise auf ihren Verbleib. Ihr Name gilt als „verschollen” im NS-Krankenmordsystem — typisch für Opfer, bei denen kein individueller Todesakt nachweisbar war.

Ihre Situation verdeutlicht die Dynamik der Transfers: Patientinnen und Patienten wurden systematisch von einer Anstalt in die nächste verschoben, um die Orte der Ermordung zu verschleiern und die Verantwortung zu verschleiern.


Wilhelmine Pupcke wurde am 2. August 1894 geboren. Über ihre Herkunft oder Lebensführung vor der Einweisung liegen keine konkreten Angaben vor.

Am 18. Juli 1941 wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg (Schwerin) überführt. Sachsenberg war zur NS-Zeit eine Anstalt, in der Tötungsmaßnahmen systematisch durchgeführt wurden, oft verbunden mit Verlegungen in zentrale Tötungsanstalten oder dezentral in den Einrichtungen selbst. Laut Angaben zur Gemeinde Steinfurt wird ihre Deportation mit Signatur R 179/28210 aufgeführt.

Zwischen 1939 und 1945 wurden in Sachsenberg nachweislich mindestens 1.900 Menschen ermordet, entweder durch Verlegungen in Gaskammern oder durch dezentralisierte Tötungen (z. B. Hunger, Verzicht auf Pflege, Medikamentengabe).

Wie bei den meisten Opfern aus dieser Zeit fehlt jegliche Spur über ein Todesdatum, einen Sterbeort oder eine offizielle Vermerkung in den Patientenakten. Ihr Name verschwindet — wie oft — aus den Kartei-Einträgen. Aufgrund des Zeitpunktes ihrer Einlieferung und der in Sachsenberg angewandten Praktiken liegt es nahe, dass sie eines jener Opfer war, die entweder unmittelbar ermordet oder durch Entzug von Pflege und Versorgung in den Tod getrieben wurden.

Wilhelmine Pupcke steht damit für viele Frauen und Männer, die in den psychiatrischen Einrichtungen der NS-Zeit verblassten — aus der Akte, aus dem Gedächtnis, oft auch aus der Familie.


Johanna Elisabeth Temmen wurde am 13. April 1893 geboren – vermutlich in Neuenkirchen – und später in die Heil- und Pflegeanstalt Eichberg eingeliefert. Die Steinfurt-Datenbank führt sie unter Heil- und Pflegeanstalt Eichberg mit dem Todesdatum 28. April 1942 an.

Laut Sterberegister oder Anstaltsakten ist ihr Tod dokumentiert – allerdings in verschleiernder Form. Die Todesursache lautet „Spaltungsirresein“ (Schizophrenie) mit Herzstillstand als unmittelbare Begründung. 

In Eichberg existiert eine „Namensliste Krankenmorde“, in der Johanna Temmen aufgeführt ist. Diese Listen entstanden im Rahmen lokaler Gedenkarbeit und stellen Versuche dar, verloren geglaubte Opfer sichtbar zu machen. Solche Listen zeigen, dass Eichberg während des NS-Regimes zu Tötungsstätten gehörte — mit mehreren Tausend Patientinnen und Patienten, die nicht überleben sollten.

Bei Johanna Temmen konnte ich, im Zusammenspiel von Angabe und Forschung, folgendes rekonstruieren:

Sie war dauerhaft in Eichberg untergebracht – nicht nur als Kurzzeitpatientin.

Ihr Tod wurde mit einer formal medizinischen Note dokumentiert, die aber keinen Widerspruch zur Systematik des „stillen Mordes“ darstellt: Entzug von Nahrung, Medikamentenverabreichung, Vernachlässigung zählen zu den Mitteln.

Ihre Karteikarte endet abrupt, ohne weiteren Vermerk — ein typisches Merkmal für Opfer, die als „verstorben“ gelten, aber in Wahrheit eliminiert wurden.

Johanna Temmen ist ein belastendes Beispiel für jene Phase, in der die zentralistische Tötungslogik der frühen T4-Wellen weniger sichtbar wurde und Ermordung in Gestalt von medizinischer Fürsorgeunterlassung oder verschleierter Verordnung erfolgte.


Hendrina Maria Salzmann (* 31. Oktober 1880) war eine der Frauen, die relativ spät im Euthanasie-System starben — sie überlebte mehrere Jahre in Eichberg.

Geboren am 31. Oktober 1880 – Details zu ihrem frühen Leben sind in den öffentlich zugänglichen Quellen nicht vorhanden. Ihr Name taucht in der Steinfurt-Datenbank auf mit Vermerk: Heil- und Pflegeanstalt Eichberg, † 15. Oktober 1944.

In den Sterberegistern oder Anstaltsdokumenten steht als Todesursache „Spaltungsirresein, Siechtum“ - also Schizophrenie und körperlicher Verfall. Diese Formulierungen sind nicht neutral: Sie dienen der bürokratischen Tarnung von Todesursachen, die in Wahrheit durch die brutalen Bedingungen der Unterbringung zustande kamen.

Hendrina Salzmanns längeres Überleben lässt zumindest vermuten, dass sie nicht sofort bei ihrer Einweisung getötet wurde, sondern über Monate oder Jahre dem System der Entmenschlichung ausgesetzt war: Hunger, Kälte, eingeschränkte Pflege, Mangel an medizinischer Versorgung, Isolation können – kombiniert – zum Tod führen.

Dass ihr Name in den Kartei-Einträgen am Ende verschwindet, keine ausführliche Begründung für ihr Ableben hinterlegt ist, spricht dafür, dass sie – wie viele andere – Opfer eines „versteckten Mordes“ wurde.


Die Schicksale dieser fünf Frauen lassen sich nicht isoliert betrachten, sondern im Rahmen der NS-Krankenmorde – zuerst unter der Aktion T4 (1940–1941), später in dezentrale Fortführungen (ab 1942, z. B. unter dem Schlagwort „Aktion Brandt“).

Aktion T4 war das zentrale Programm zur systematischen Ermordung psychisch Erkrankter und geistig Behinderter. In mehreren zentralen „Tötungsanstalten“ wie Grafeneck, Hadamar, Hartheim, Sonnenstein, Brandenburg, Bernburg wurden Menschen vergast. Danach wurden Patientenakten manipuliert, Todesursachen gefälscht und Überreste verbrannt oder verscharrt. Viele Opfer wurden in Transporten verschoben, um den Weg der Morde zu verschleiern.

Nach dem offiziellen „Stopp“ der T4-Morde im August 1941 gingen die Morde nicht zu Ende, sondern wurden dezentral in einzelnen Anstalten weitergeführt – oft über den Entzug von Pflege, medikamentöse Überdosierung oder Nährstoffentzug. Patientinnen und Patienten starben dann „still“ im System.

Der Begriff Aktion Brandt bezeichnet eine spätere Phase solcher dezentral durchgeführten Tötungen in Heil- und Pflegeanstalten (insbesondere ab 1942). Viele der hier genannten Anstalten, wie Eichberg, waren Teil dieses Netzwerks.

Die Lücken in den Archiven – fehlende Karteieinträge, keine Sterbedaten, Unterlagen, die bewusst ausgelöscht oder nicht erhalten wurden – sind selbst Teil des Tätermusters: Ein Mord ohne Spuren. Die Opfer verschwanden aus den Registern, oft ohne dass ihre Familien oder Gemeinschaften jemals Gewissheit erhielten.

Dies zeigt die perfide Konsequenz, mit der das NS-Regime systematisch Leben auslöschte - im Verborgenen, in Kliniken und Anstalten, hinter den Fassaden einer vermeintlichen Fürsorge. Ihre Namen erinnern daran, dass die Krankenmorde kein anonymer Teil der Geschichte sind, sondern tief in Orte wie Neuenkirchen hineinwirkten.

Diese Geschichten, die ich nach und nach aus Archiven, Datenbanken und vergilbten Artikeln zusammengesetzt habe, lassen sich nicht mehr trennen von dem Ort, an dem ich heute lebe. Sie gehören hierher – auf die Straßen, in das Gedächtnis, in die öffentliche Wahrnehmung. Erinnerung darf kein Randthema bleiben, kein Foyer-Dokument, das man nur zufällig entdeckt, wenn man auf dem Amt etwas erledigt.

Wer diesen Menschen wieder einen Platz im kollektiven Gedächtnis gibt, tut mehr, als Geschichte zu bewahren. Er stellt sich gegen das Vergessen, gegen die Bequemlichkeit, die sich so leicht über die Vergangenheit legt. Es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortung – darum, den Blick zu heben und zu sagen: Das war hier. In unserer Mitte.

Wenn Orte wie Neuenkirchen offen über ihre Geschichte sprechen, wenn Namen ausgesprochen, Geschichten erzählt und Gesichter sichtbar werden, dann verändert sich etwas. Dann wird Erinnerung zu Haltung.
Und vielleicht liegt genau darin die Aufgabe unserer Generation: nicht zu schweigen, wo andere schwiegen, sondern den Raum zu öffnen, den die Toten nicht mehr haben.

Diese Menschen dürfen nicht nur in Listen existieren. Sie müssen Teil des Ortsbildes werden – sichtbar, erkennbar, unausweichlich.
Denn erst, wenn auch ihre Namen draußen stehen, zwischen den gepflegten Denkmälern, wird Neuenkirchens Geschichte vollständig erzählt.

Ich werde mich dafür einsetzen, dass diese Menschen auch außerhalb von Amtszeiten ihren Platz im öffentlichen Bewusstsein finden – dass ihr Gedenken nicht hinter Türen verschwindet, sondern dort sichtbar wird, wo das Leben spielt: auf den Straßen, in der Mitte des Ortes, im Blick der Menschen.

Dann darf man vielleicht kurz still werden. 

Erinnerung ist kein Rückblick. Sie ist ein Versprechen – dass das Schweigen nie wieder lauter wird als die Stimmen derer, die man zum Verstummen bringen wollte.

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